Das Glück eines Ali Babas ist in der Kunstwelt mittlerweile noch rarer gesät als im Märchen. Dass sich in einer Wand ein Spalt öffnet, und dahinter erscheint die Schatzkammer eines unbekannten künstlerischen Lebenswerks, das ist in der geltungs- und sendungsbewussten Gegenwart, wo jeder von jedem gesehen werden möchte, eigentlich kaum noch vorstellbar. In dieser unserer Warenwelt findet man nichts mehr, weil alles sofort nach Außen drängt. Doch als Gerd Schmidt Vanhove 2017 einen Fahrradunfall hatte, bei dessen Untersuchung Diabetes festgestellt wurde, führte das Unglück des Akteurs zum Glück einer großen Entdeckung.
Schmidt Vanhove, da bereits 66 Jahre alt, konnte nach dem Zusammenstoß nur noch beschwerlich gehen, und die wenigen Stufen vor seiner Souterrainwohnung in der Kornbrennerei wurden zu einem unüberwindbaren Hindernis. Doch mit dem dadurch erzwungenen Umzug in eine Pflegeunterkunft fiel das Licht der Öffentlichkeit plötzlich in seinen Kosmos, eine ganz spezielle Wunderkammer, die man eigentlich nur mit Fotos und nicht mit Worten adäquat beschreiben kann. In der kleinen L-förmigen Wohnung diente nur das eingekeilte Bett noch alltäglichen Bedürfnissen. Alles andere in dieser Kreativhöhle war der Kunst gewidmet.
Jeder verfügbare Fleck staute Material, mit dem Gerd Schmidt Vanhove auf dem Küchentisch seine Kunstwerke schuf, mit Bunsenbrenner und Lötkolben, Farbe, Leim, Draht und Glycerin. Doch die großen Regale füllten keine edlen Stoffe und Pigmente. Die weit in den Raum reichende Stauflächen dienten als Rettungsboote des Weggeworfenen, Asyle vor der Stadtreinigung. Gerd Schmidt Vanhove hob Sachen auf, erst vom Stadtboden, dann in seiner Klause. Altes Spielzeug und Vogelskelette, Drähte und Kabel, Plastikzeugs und Metall, alles, was die Konsumgesellschaft so achtlos auswirft, ergänzt um seine Einkäufe beim Trödel „Stöbertreff“. Jedes Ding bekam durch Gerd Schmidt Vanhove eine zweite Chance.
Rund 20 Jahre arbeitete der als Heinz-Gerhard Schmidt 1950 in Hannover-Letter Geborene wie ein Kunsteremit für sich, nachdem er noch während seines Kunststudiums in den Achtzigern an der HBK Braunschweig und danach bis 1998 an Ausstellungen in Deutschland, aber auch in den USA, in Kanada und England teilgenommen hatte. In der freiwilligen Zurückgezogenheit totaler Kunstmarktabsenz schuf er so manisch wie introvertiert Skulpturen und Schaukästen, kinetische Objekte und Collagenbücher, Zeichnungen und Gemälde.
Und was er in seiner Wohnung nicht mehr unterbringen konnte, das lagerte er in Kellern des Kulturzentrums „Glocksee“, wo er sein Geld hinterm Tresen bei den „Graveyard“-Schichten verdiente, also mit Arbeitsnächten, die so lange dauerten, bis der Letzte, also Gerd, gegen 7 Uhr morgens die Tür abschloss. Auch hier bearbeitete er zwischen dem Ausschank alkoholischer Getränke Bierdeckel und Bestellzettel, seine Materialcollagen hingen unter der Decke, seine Freunde hielten ihn für einen herrlich verrückten Bastler, einen skurrilen Einzelgänger der kreativen Selbstbeschäftigung, wie man sie im Umkreis alternativer Szenen häufig antrifft.
Doch nachdem seine Arbeiten aus den Kellern und der Klause geholt worden waren, von Marie-Luise Becker und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern der Kunstplattform h:art, nachdem sie im Teil einer Fabrikhalle, die die Gruppe angemietet hatte, versammelt wurden und später in der ersten und bisher einzigen großen Retrospektive im Sprengel Museum im kunsthistorischen Kontext sichtbar wurden, da zeigte sich sehr schnell, dass diese Resultate eines lodernden Kunstwollens viel mehr sind als ein Spleen. Gerd Schmidt Vanhove hatte sich eine überaus reich und phantastisch illustrierte Welt aus Eigensinn und Poesie geschaffen, bevölkert von allerlei Transformationen der Konsumwelt wie der Kunstgeschichte. Und diese Welt war im Widerstand gegen alles Normative.
Als ein Kurt Schwitters der Verschleißgesellschaft reaktivierte er das Fundstück als Wirklichkeitsfragment in seinen Skulpturen und Mini-Altären, seinen dystopischen Dioramen und dicken Collagenbüchern mit Gedichten. Der Glaube an die Energie und Seele von Dingen lieh er sich von Joseph Beuys, die Wut, mit der er manche seine Miniaturbühnen für Kunstgeister mit Feuer, Chemie und Werkzeugen malträtierte, stammte aus dem Punk. Aber manchmal waren seine Objekte auch überaus fein und filigran, als hätte ein Mönch mit Engelsgeduld sie geschaffen.
Doch so offensichtlich in vielen seiner Arbeiten die Inspirationen sichtbar sind, von Max Ernst und Meret Oppenheim zu Dieter Roth, von Dada über den Surrealismus bis zu Fluxus, die Welten, die Gerd Schmidt Vanhove schuf, waren vollständig die seinen. Bühnen der Grenzüberschreitungen, wo so kleinliche Kategorien wie richtig, wahr oder schön überhaupt keine Bedeutung mehr haben, weil die hybriden Akteure, die Schmidt Vanhove in diese Inszenierungen einer Welt der Scherben und des Verschmolzenen setzte, ihre eigenen Märchen von richtig, wahr und schön erzählten. Und zwar in einer Vielfalt und Freiheit bei der Erfindung wunderbarer Zusammenhänge, dass dahinter eine geradezu explosive Sehnsucht zu spüren ist nach einer anderen Lebenswirklichkeit vor der Tür der Künstlerklause. Eine Realität, in der Wesen wirklich anders sein dürfen als die eitlen Regeln der Verwertbarkeit es diktieren – und dafür respektiert und geliebt werden.
Wahrscheinlich hatte Gerd Schmidt Vanhove einen Traum: Eines Tages in einer Welt aufzuwachen, die so freundlich verrückt und eigensinnig ist, wie er selbst. Bis dahin hat er sie in Ermangelung ihrer Ankunft selbst geschaffen, en miniature, aber mit der ganzen Kraft eines großen Geschichtenerzählers aus tausend und einer Künstlernacht. Deren wirkliches Erscheinen wird er leider nicht mehr erleben, denn Gerd Schmidt Vanhove starb drei Tage vor seinem 70. Geburtstag am 24. November 2020 in seiner Geburtstadt. Wir Ali Babas aber, denen sein Sesam sich geöffnet hat, genießen das Glück, dass er uns diese andere Welt als Anschauung hinterließ. Zur Freude und als Verpflichtung, das Wesen der Dinge ganz neu zu ergründen.